Gestern, 18:54
Es gelang ihr tatsächlich, Mammons Irritation noch zu verstärken, indem sie sich bei ihm bedankte. Dadurch, dass sie sich nun umgedreht hatte, konnte Lilith seinen Blick diesmal sehr gut erkennen – sie wusste, dass er verstanden hatte, was sie meinte. Und dann sah sie, wie sich fast ein ganzer Film an Ausdrücken in seinem Gesicht widerspiegelte, zumindest ein paar Sekunden lang, ehe er sich wieder der Straße zuwandte und erklärte, dass es Kisais Job war, genau diese Dinge zu tun. Wäre sie nicht so geübt darin, andere Lebewesen – hauptsächlich Menschen – zu lesen und ihre Schwachstellen zu erkennen, um sie dann um ihre Seele zu bringen… vielleicht wäre es ihr entgangen, so schnell wie es Mammon gelang, seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle zu bringen und zum eigentlichen, oberflächlichen Thema ihres Gesprächs zurückzukehren.
An einem anderen Tag hätte sie an gleicher Stelle vielleicht den Finger in die Wunde gelegt und wieder hervorgezogen, was er so gut versuchte zu kaschieren. Heute allerdings war Lilith zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt – den körperlichen Schmerzen, aber insbesondere auch der Tatsache, dass sie überhaupt besagte Dankbarkeit empfand und das Bedürfnis hatte, sie zu äußern. All diese Empfindungen waren so neu für sie und sie hatte keinen blassen Schimmer, welche sie beachten, ignorieren oder am besten komplett ausmerzen sollte.
Vielleicht lag das auch an dem enormen Blutverlust, den sie letzte Nacht erlitten hatte, und der ihr immer noch ordentliche Kopfschmerzen bereitete und sie hin und wieder grelle Ränder an ihrem Sichtfeld erkennen ließ. Wahrscheinlich war es das. Hoffentlich.
Der Weg nach oben war für Lilith eine Tortur. Es gab schon Gründe, warum schwere Verletzungen typischerweise nicht mit Ortswechseln einhergingen, das wurde ihr nun schmerzlich bewusst. Dennoch, sobald sie Mammons Wohnung betreten hatten, die Türen des Aufzugs sich schlossen und sie im Wohnbereich zur Ruhe kam, erkannte sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Sie war nie zuvor hier gewesen, aber ihr Körper entspannte sich dennoch auf eine Art und Weise, wie es ihr bei Wolfram & Hart nicht möglich gewesen war. Vielleicht war es die Gewissheit, dass es seine Räume waren. Vielleicht die Tatsache, dass gewisse Dinge zwischen ihnen nonverbal funktionierten, und dass das in ihrer aktuellen Situation, in der sie sich fremd fühlte in einem Körper, der nicht funktionierte, wie er sollte, einer der einzigen Punkte in ihrer Existenz waren, die noch Sinn ergaben. Mammon war in diesem Moment Vertrautheit für sie. Sicherheit. Was das bedeutete...
Lilith entschied sich, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Sie hatte schon genügend Kopfschmerzen.
Einen kurzen Moment war sie allein, während ihr Bruder mit Kisai telefonierte. Ihre Bewegungsfreiheit leider eingeschränkt, konnte sie sich nicht groß in der Wohnung umsehen, abgesehen davon, was sie von hier aus erkennen konnte. Aber… eines sprang ihr sofort ins Auge.
„Hervorragender Flügel“, kommentierte sie, das Glas annehmend, das Mammon ihr reichte, bevor er sich in einem Sessel niederließ. „Ich hab dich nicht mehr spielen hören seit… bestimmt 200 Jahren. Mindestens.“
Zuhause war kein Platz für Musik. Nicht diese Art von Musik. Aber als die Menschen Tasteninstrumente erfunden hatten… sie erinnerte sich daran, wie besessen Mammon gewesen war, damals in Italien. Aber bis letztes Jahr hatte er nicht wirklich viel Zeit auf der Erde verbracht und… nun ja. Zuhause war eben kein Platz für Musik. Luzifer würde das Instrument wahrscheinlich persönlich in Brand stecken, wenn er erfuhr, dass Mammon damit seine Zeit vergeudete.
Er prostete ihr zu und Lilith erwiderte die Geste knapp, ehe sie ihr Glas vollends erhob und es in einem Zug austrank. Das war nicht die Art und Weise, wie man einen guten Scotch in all seinen Geschmacksnoten genoss, und allein der Flasche nach zu urteilen war Mammons privater Alkoholvorrat mit teuren und hochwertigen Exemplaren bestückt. Aber wenn sie in ihrem neuen Körper die Chance hatte, betrunken zu werden und ihre Gefühle auf diese Art zu betäuben, auch wenn es im Zweifelsfall länger dauerte, dann war es höchste Zeit, dass sie damit anfing.
“Was in Dads Namen ist passiert? Wer ist so mächtig, dass er es schafft dir deine Gnade zu rauben?”
Und sie wusste auch genau warum. Mammon war noch nie jemand gewesen, der ein Blatt vor den Mund genommen hatte, und in den meisten Fällen schätzte sie diesen ehrlichen Umgang mit ihm sehr, auch wenn die Form und Taktlosigkeit hin und wieder zu wünschen übrig ließen. Aber jetzt fühlte es sich an, als würde er ihr die Pistole auf die Brust setzen.
Es war schwerer als sie erwartet hätte. Darüber zu sprechen, was passiert war, letzte Nacht… so vollkommen unerwartet. Sie hatte es selbst noch nicht komplett sortiert und durchdacht, eingeordnet… und ganz bestimmt auch nicht verarbeitet. Vor allem nicht das, aus Scheu vor all den Gefühlen, die sie nun bewusst heraufbeschwören würde, wenn sie davon erzählte. Gefühle, mit denen sie nicht umzugehen wusste. Schon jetzt nicht – wie auf Kommando waren da Sorge. Angst. Unsicherheit. Mammon, wie würde er reagieren? Wäre er auf ihrer Seite? Oder würde er sie lächerlich machen dafür, dass sie es nicht früher geschafft hatte, sich zu befreien? Bevor es soweit gekommen war? Aber woher hätte sie ahnen sollen, dass…
Lilith streckte sich, eine Hand auf die schmerzende Wunde in ihrer Seite gepresst, und griff nach der Flasche auf dem Tisch, um ihr Glas wieder aufzufüllen. Vielleicht um Zeit zu schinden. Vielleicht um die Nervosität in den Griff zu bekommen, weil sie anders nicht wusste wie. Sie war normalerweise nicht nervös. Oder ängstlich. Vor allem das nicht.
Aber Mammon… er hatte sich verändert, in den letzten Monaten. Die Zeit, die er hier auf der Erde verbracht hatte – sie machte irgendwas mit ihm. Es war subtil, und wahrscheinlich gar nicht so sehr bemerkbar, wenn man ihn nicht so gut kannte. Er war immer noch vorlaut und von sich selbst überzeugt mit deutlichen Neigungen zum Größenwahn. Er hatte offenbar seine Kräfte zurück und bevorzugte es, wenn alle Personen im Raum nach seiner Pfeife tanzten.
Aber… da war noch mehr. Er spielte wieder Klavier.
Sie atmete einmal tief ein, lehnte sich wieder zurück, ihr Glas in der Hand, und entschied sich für die schlichte, ehrliche Antwort auf seine Frage.
„Er war es.“
An einem anderen Tag hätte sie an gleicher Stelle vielleicht den Finger in die Wunde gelegt und wieder hervorgezogen, was er so gut versuchte zu kaschieren. Heute allerdings war Lilith zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt – den körperlichen Schmerzen, aber insbesondere auch der Tatsache, dass sie überhaupt besagte Dankbarkeit empfand und das Bedürfnis hatte, sie zu äußern. All diese Empfindungen waren so neu für sie und sie hatte keinen blassen Schimmer, welche sie beachten, ignorieren oder am besten komplett ausmerzen sollte.
Vielleicht lag das auch an dem enormen Blutverlust, den sie letzte Nacht erlitten hatte, und der ihr immer noch ordentliche Kopfschmerzen bereitete und sie hin und wieder grelle Ränder an ihrem Sichtfeld erkennen ließ. Wahrscheinlich war es das. Hoffentlich.
Der Weg nach oben war für Lilith eine Tortur. Es gab schon Gründe, warum schwere Verletzungen typischerweise nicht mit Ortswechseln einhergingen, das wurde ihr nun schmerzlich bewusst. Dennoch, sobald sie Mammons Wohnung betreten hatten, die Türen des Aufzugs sich schlossen und sie im Wohnbereich zur Ruhe kam, erkannte sie, dass es die richtige Entscheidung gewesen war. Sie war nie zuvor hier gewesen, aber ihr Körper entspannte sich dennoch auf eine Art und Weise, wie es ihr bei Wolfram & Hart nicht möglich gewesen war. Vielleicht war es die Gewissheit, dass es seine Räume waren. Vielleicht die Tatsache, dass gewisse Dinge zwischen ihnen nonverbal funktionierten, und dass das in ihrer aktuellen Situation, in der sie sich fremd fühlte in einem Körper, der nicht funktionierte, wie er sollte, einer der einzigen Punkte in ihrer Existenz waren, die noch Sinn ergaben. Mammon war in diesem Moment Vertrautheit für sie. Sicherheit. Was das bedeutete...
Lilith entschied sich, den Gedanken nicht weiter zu verfolgen. Sie hatte schon genügend Kopfschmerzen.
Einen kurzen Moment war sie allein, während ihr Bruder mit Kisai telefonierte. Ihre Bewegungsfreiheit leider eingeschränkt, konnte sie sich nicht groß in der Wohnung umsehen, abgesehen davon, was sie von hier aus erkennen konnte. Aber… eines sprang ihr sofort ins Auge.
„Hervorragender Flügel“, kommentierte sie, das Glas annehmend, das Mammon ihr reichte, bevor er sich in einem Sessel niederließ. „Ich hab dich nicht mehr spielen hören seit… bestimmt 200 Jahren. Mindestens.“
Zuhause war kein Platz für Musik. Nicht diese Art von Musik. Aber als die Menschen Tasteninstrumente erfunden hatten… sie erinnerte sich daran, wie besessen Mammon gewesen war, damals in Italien. Aber bis letztes Jahr hatte er nicht wirklich viel Zeit auf der Erde verbracht und… nun ja. Zuhause war eben kein Platz für Musik. Luzifer würde das Instrument wahrscheinlich persönlich in Brand stecken, wenn er erfuhr, dass Mammon damit seine Zeit vergeudete.
Er prostete ihr zu und Lilith erwiderte die Geste knapp, ehe sie ihr Glas vollends erhob und es in einem Zug austrank. Das war nicht die Art und Weise, wie man einen guten Scotch in all seinen Geschmacksnoten genoss, und allein der Flasche nach zu urteilen war Mammons privater Alkoholvorrat mit teuren und hochwertigen Exemplaren bestückt. Aber wenn sie in ihrem neuen Körper die Chance hatte, betrunken zu werden und ihre Gefühle auf diese Art zu betäuben, auch wenn es im Zweifelsfall länger dauerte, dann war es höchste Zeit, dass sie damit anfing.
“Was in Dads Namen ist passiert? Wer ist so mächtig, dass er es schafft dir deine Gnade zu rauben?”
Und sie wusste auch genau warum. Mammon war noch nie jemand gewesen, der ein Blatt vor den Mund genommen hatte, und in den meisten Fällen schätzte sie diesen ehrlichen Umgang mit ihm sehr, auch wenn die Form und Taktlosigkeit hin und wieder zu wünschen übrig ließen. Aber jetzt fühlte es sich an, als würde er ihr die Pistole auf die Brust setzen.
Es war schwerer als sie erwartet hätte. Darüber zu sprechen, was passiert war, letzte Nacht… so vollkommen unerwartet. Sie hatte es selbst noch nicht komplett sortiert und durchdacht, eingeordnet… und ganz bestimmt auch nicht verarbeitet. Vor allem nicht das, aus Scheu vor all den Gefühlen, die sie nun bewusst heraufbeschwören würde, wenn sie davon erzählte. Gefühle, mit denen sie nicht umzugehen wusste. Schon jetzt nicht – wie auf Kommando waren da Sorge. Angst. Unsicherheit. Mammon, wie würde er reagieren? Wäre er auf ihrer Seite? Oder würde er sie lächerlich machen dafür, dass sie es nicht früher geschafft hatte, sich zu befreien? Bevor es soweit gekommen war? Aber woher hätte sie ahnen sollen, dass…
Lilith streckte sich, eine Hand auf die schmerzende Wunde in ihrer Seite gepresst, und griff nach der Flasche auf dem Tisch, um ihr Glas wieder aufzufüllen. Vielleicht um Zeit zu schinden. Vielleicht um die Nervosität in den Griff zu bekommen, weil sie anders nicht wusste wie. Sie war normalerweise nicht nervös. Oder ängstlich. Vor allem das nicht.
Aber Mammon… er hatte sich verändert, in den letzten Monaten. Die Zeit, die er hier auf der Erde verbracht hatte – sie machte irgendwas mit ihm. Es war subtil, und wahrscheinlich gar nicht so sehr bemerkbar, wenn man ihn nicht so gut kannte. Er war immer noch vorlaut und von sich selbst überzeugt mit deutlichen Neigungen zum Größenwahn. Er hatte offenbar seine Kräfte zurück und bevorzugte es, wenn alle Personen im Raum nach seiner Pfeife tanzten.
Aber… da war noch mehr. Er spielte wieder Klavier.
Sie atmete einmal tief ein, lehnte sich wieder zurück, ihr Glas in der Hand, und entschied sich für die schlichte, ehrliche Antwort auf seine Frage.
„Er war es.“

